Bei Hitlers Machtantritt lebten über 500.000 Menschen mit jüdischem Hintergrund in Deutschland. Schätzungsweise 200.000 Juden wurden von den NS-Mördern verschleppt und ermordet. Darunter befanden sich auch diejenigen, die zwar aus ihrer Heimat flüchten konnten, aber in den europäischen Nachbarstaaten von der NS-Mordmaschinerie eingeholt wurden. Rund 300.000 jüdischen Deutschen gelang die Emigration: An der Spitze der Exilländer standen die USA mit weit über 100.000 und Palästina mit mehr als 50.000 Einwanderern. Der Rest der jüdischen Flüchtlinge fand Zuflucht in zirka neunzig anderen Ländern weltweit.
Ab den 1990er Jahren begann das Moses Mendelssohn Zentrum an der Universität Potsdam mit der Videoaufzeichnung von Zeitzeugenberichten von Juden, die das NS-Regime überlebten. An der amerikanischen Yale University hatte diese Art von Erinnerungsarbeit zu der Zeit bereits eine lange Tradition. 1979 wurde dort mit der filmischen Dokumentation von Berichten Überlebender der Shoa begonnen und damit ein Grundstein für eine neue Art von Gedächtniskultur gelegt. Ziel war es, einerseits den Opfern ein Gesicht zu geben und andererseits das unsägliche Leid der Überlebenden anhand ihrer konkreten Erfahrungen für die Nachwelt zu dokumentieren.
Der millionenfache Mord an den europäischen Juden wurde durch die Individualisierung fassbarer gemacht, Personen, die sonst hinter nüchternen Fakten, Statistiken und Analysen verschwunden wären, legten ihr persönliches Zeugnis über die Shoa ab. „Was wir heute noch in Träumen erleben, ist in keiner Literatur nachzulesen“, erklärte beispielsweise der ehemalige KZ-Häftling Julius Goldstein dazu. Gleichwohl haben viele Überlebende jahrzehntelang nicht über ihre schlimmen Erlebnisse von Verfolgung, Demütigungen und Folter sprechen können.
Mitte der 1990er Jahre entstand in Zusammenarbeit mit der Medienwerkstatt Franken die Idee, über den klassischen Dokumentarfilm hinaus solche Lebensgeschichten für die Zukunft zu bewahren. Denn eines war klar: Die biologische Uhr tickt gnadenlos. Mit dem absehbaren Tod der Shoa-Überlebenden wird Zeitgeschichte zur Geschichte. 1998 war es dann endlich soweit: das „Nürnberger Videoarchiv der Erinnerung“ wurde – trotz ungesicherter Finanzierung – ins Leben gerufen.
Zur Konzeption des Projekts einige Stichpunkte: Das „Nürnberger Videoarchiv der Erinnerung“ beschränkte sich auf Interviews mit Überlebenden aus der Region Nürnberg und erhebt keinen repräsentativen Anspruch. Dennoch spiegeln sich in den Erzählungen regelmäßig Themen wider, die charakteristisch für die Situation und Erfahrungen von vielen Emigranten waren.
Die Interviews wurden ausnahmslos in deutscher Sprache geführt und erinnern durch die teilweise immer noch deutlich hörbare fränkische Sprachfärbung der Befragten an die ihnen geraubte Heimat. Die Befragung vor der Kamera erfolgte bis auf wenige Ausnahmen nicht im Studio, sondern in häuslicher Umgebung der Zeitzeugen. Im Mittelpunkt standen Fragen zum Alltagsleben der Menschen während des NS-Regimes, Erlebnisse während der Flucht oder in der Emigration.
In den vergangenen Jahren entstanden aus dem umfangreichen Material drei 12-minütige Features und drei 27-minütige Dokumentationen, die auf den Sendeplätzen der Medienwerkstatt Franken im Regionalfernsehen ausgestrahlt wurden. Diese sechs Produktionen sind als DVD-Edition erhältlich. Zusätzlich wurden 23 sogenannte Kompaktinterviews erstellt, die nun per Videostream weltweit abrufbar sind. Zu diesen 10- bis 20-minütigen Interviews liegen teilweise Fragebogen vor, die als pädagogische und didaktische Hilfe zum Einsatz im Unterricht Verwendung finden sollen.
Oral History
Wenngleich die Oral History vielfach, ob in Form von Zeitzeugenvorträgen in den Schulen oder als Filmmaterial, von manchen als der Königsweg der Erinnerungsarbeit gesehen wird, muss man diese Methode auch auf den Prüfstand stellen. Das menschliche Gedächtnis ist kein objektiver Speicher. Erinnerungen können schlichtweg falsch, konstruiert oder verformt sein. Zeitzeugeninterviews müssen also nicht nur hinterfragt, sondern auch in einen historischen Kontext gestellt und interpretiert werden. Sie vermitteln neben Einblicken in ein Leben auch wichtige Aussagen zur Geschichte. Man muss den Menschen ernsthaft aber auch kritisch zuhören, damit ihre Aussagen fundiert bleiben und dadurch Geltung für die Zukunft beanspruchen können.
„Die Stärke des Zeugenvideos besteht darin, dass man nicht die Tat selbst sieht, sondern jemanden, der das durchgemacht hat und der die Courage hatte, darüber zu reden“ , meint etwa der Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman, der 1929 in Frankfurt geboren wurde, 1939 via Kindertransport noch aus Deutschland entkam und 1979 in Yale das erste Archive for Holocaust Testimonies ins Leben rief.